Turmstadt

Ein Bruch? Zumindest ein großer Stein-Bruch.
Kindheitserfahrungen prägen bekanntlich besonders: visuell, gedanklich und haptisch. Dass dies bei mir in Bezug auf LEGO in hohem Maße zutrifft, steht außer Frage. Dass daraus im Alter von 40 Jahren indes ein solch ausgewachsenes Projekt wie die "Turmstadt" entsteht, bedarf vielleicht doch einer eingehenderen Erläuterung. Meine ausführlichen Anmerkungen dazu folgen nach den Bildern am Ende dieser Seite.

Enstehungszeit: 2011 - 2015
Abmessungen: Breite: ca. 1,65 m - Länge: ca. 2,25 m - Höhe: ca. 2 m
Technik: Objekte aus Legoelementen (Unikate und Serienmodelle) - Gesamtzahl der Steine: ca. 110.000
Fotografien: David Groschwitz, Karlsruhe


















































Die schlanksten Türme

Der Turmbau zu Lego lässt sich noch auf die Spitze treiben. Wie schlank (also dünn bei möglichst großer Höhe) kann man bauen, bevor der Turm umfällt? Als Wissenschaftler in der Mikrostrukturtechnik ist dies für mich nun der gegebene Anlass, das sogenannte Aspektverhältnis zu erläutern. Das Aspektverhältnis beschreibt eben genau den Schlankheitsgrad einer Struktur und ist definiert als das Verhältnis zwischen der Höhe und der schmalsten Seitenbreite der Struktur. Die Definition gilt natürlich auch in der Makrowelt. Ein Haus von 50 Metern Höhe und 10 Metern Breite hätte demnach ein Aspektverhältnis von 5. Das höchste Gebäude der Welt - das Burj Khalifa in Dubai - hat bei 828 Metern Höhe ein gemitteltes Aspektverhältnis von ca. 18 - das ist zur Zeit Weltrekord in der Liga der höchsten Wolkenkratzer (gemittelt deshalb, weil sich das Gebäude nach oben verjüngt, als Bezug gilt dann die mittlere Breite). In der Mikrotechnik ringen einem solche Aspektverhältnisse eher ein müdes Lächeln ab, die Rekordmarken liegen da im Bereich jenseits von 100.

Was ist also mit Legosteinen zu schaffen? Im Folgenden die Ergebnisse eines Versuchs mit ästhetischen Randbedingungen. Das gemittelte Aspektverhältnis beim höchsten Turm liegt bei spektakulären 108 :-)

Der höchste (schwarze) Turm misst ca. 2,60 m. Zum Vergleich: die Raumhöhe beträgt 2,92 m.



Rekord-Gruppenbild
In die Breite gezogen

Strukturdetails
Optische Staffelung

Die Türme vor "Jakob I + II"  (Bildhöhe je 2 m)





Anmerkungen zur Turmstadt

Als ich um 2011 neben den Flugzeugobjekten begann, mich zeitgleich intensiv dem Thema Lego zu widmen, war dies alles andere als Neuland für mich. In meiner Kindheit und Jugend hatten die kleinen bunten Steine neben dem Malen - oder vermutlich noch davor - zweifellos eine ganz entscheidende, ja elementare Bedeutung für mich. Diese Bedeutung ist mir erst in den vergangenen Jahren in ihrer ganzen Tragweite klar geworden. Legosteine waren stets weit mehr als ein Spielzeug oder kreatives Tun: eher schon glich das Bauen einem kleinen, unbewussten Weltschöpfungsprozess, mithin also ein Vorgang kosmogonischen Ausmaßes en miniature - jedenfalls für das Kind.

Die Städte und Landschaften begannen stets im Kopf, um dann, je nach Steinevorrat (und der war natürlich begrenzt), sich klein, aber - entscheidenderweise - räumlich zu materialisieren. Die Dreidimensionalität verschaffte diesen kleinen Welten, die natürlich stets auch und vor allem innere Welten waren, offenbar eine Wirkmacht, die der realen Welt, wenn nicht überlegen, so doch zumindest ebenbürtig war. Lange genug ergab ich mich dieser Träumerei, bis das Erwachsenwerden - oder vielleicht eher dessen gesellschaftliche Normierung - die kleine bunte Legowelt erwartungsgemäß verdrängte. Gut zwei Jahrzehnte schlummerte die Erinnerung an diese Art von Weltschöpfung, allerdings nicht ohne zwischenzeitlich mehrmals kurz aufzuflackern. Aber natürlich hatte die Malerei die Aufgabe des Mediums im künstlerischen Weltschöpfungprozess völlig zu Recht und mit überwältigender Dominanz übernommen.

Müssig zu fragen, warum nun das Bauen wieder wichtig wird. Einfach gesagt: da ist was, das raus muss. Interessanter scheint mir die Frage nach der Rezeption, der möglichen Kunstwürdigkeit und der unvermeidlichen Irritation. Denn bei allem Wohlwollen für den Maler ist die Sphäre unserer Wahrnehmungen - auch in der Kunst - zweifelsohne eine Schubladenwelt. Und der Maler sollte seine Schublade nur mit gutem Grund wieder verlassen. Nun, da ich 2011 bereits Flugzeugmodelle umlackiert und zu Kunstobjekten erklärt habe, zudem in meiner Malerei seit 2006 schon wiederholt Legosteine collageartig "versteckt" hatte, erscheint der unerwartete Schritt in die Legowelt vielleicht doch nicht ganz so überraschend. Es ist lediglich ein weiterer Grenzgang.

Und es ist ein Abenteuer. Die seit 2011 ins installationsartige gewachsene "Turmstadt" stellt in ihrem bunten, gleichzeitig überhöhten Charakter vermutlich das Destillat dessen dar, was an Stadtträumen in mir ist. Seit 1995 habe ich Dutzende Stadtansichten in den verschiedensten Abstraktionsgraden gemalt, im großen "Turmzyklus" (2005 - 2007) gar eine solitäre Serie von ca. 30 sogenannten Turmbildern. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Turmstadt nun als reine Entsprechung zu bestimmten Themen in meiner Malerei aufzufassen. Das Projekt ist durch die Verdichtung und Überhöhung der Gebäude allegorisch und hat viel mit unserem abendländischen Kulturkreis zu tun (und das Phänomen Lego ist ja nicht zuletzt selbst ein Teil davon). Die mannigfachen Architekturzitate können daher als liebevoll-ironischer Kommentar zum "alten Europa" und allem, was - insbesondere gegenwärtig - mit diesem Komplex zu tun hat, verstanden werden. Und ironisch gebrochen sind zum Teil auch die vielen kleinen Details, derer man erst beim zweiten oder dritten Hinsehen gewahr wird. Aber genug erläuert.

Mein ganz herzlicher Dank gilt an dieser Stelle dem Karlsruher Fotografen David Groschwitz. Ohne seine Fotografien wäre eine angemessene Präsentation der Turmstadt an dieser Stelle nicht möglich. David beschäftigt sich in seinen fotografischen Arbeiten vorrangig mit Stadtansichten und Landschaftsaufnahmen. Es war daher ein besonderer Reiz, aber auch eine Herausforderung für ihn, sich dem Thema nun auf der Miniaturebene zu widmen - womit es natürlich bezüglich Licht, Perspektive, Technik etc. ein gänzlich anderes Thema darstellt als die Freilichtfotografie. Ich finde die Fotografien hervorragend gelungen - neben dem sicheren ästhetischen Blick für ungewohnte Ansichten und Perspektiven schwingt ein hohes Maß an Poesie und Empathie mit. Die Objekte leuchten geheimnisvoll aus dem Dunkeln, was den symbolhaften Charakter der Turmstadt unterstreicht. Ich bin sehr glücklich über diese fruchtbare künstlerische Zusammenarbeit und freue mich schon auf die geplante Fortsetzung.


A. M., März 2015